10 Schriftsteller, 10 Schreibrituale

von Beruf

Der Autor, Journalist und Blogger Mason Currey beschäftigte sich jahrelang mit der Frage nach den täglichen Ritualen bedeutender Künstler. Aus seinem inzwischen eingestellten Blog „Daily Routines“ entstand sein Buch Musenküsse, in dem er die teilweise skurillen Alltagsrituale von achtundachtzig berühmten Kreativen unterschiedlicher Genres beschreibt.

Die Frage nach dem perfekten Tagesablauf, der idealen Zeit zum Schreiben, ist bei mir allgegenwärtig. Mich mit großen Schriftstellern zu vergleichen, mag vermessen sein. Doch ich finde es gleichermaßen spannend und beruhigend, zu erkennen, dass alle, die das Schreiben zum Lebensinhalt gewählt haben, auf höchst individuelle Weise den Kuss der Muse empfangen. Funktionieren die von Mason Currey zusammengetragenen Alltagsstrategien also für mich? Taugen die Rituale der Schriftstellerlegenden für meinen Alltag?

Simone de Beauvoir schrieb einige Stunden am Vormittag, traf sich danach mit Freunden und arbeitete vom späten Nachmittag bis in den Abend weiter. Während sie morgens in ihrer Wohnung schrieb, richtete sie den weiteren Tagesablauf nach ihrem Lebensgefährten Jean-Paul Sartre, in dessen Wohnung sie am Nachmittag arbeitete und abends mit ihm ausging. Auch wenn sie sich nach seinen Terminen richtete, stand ihre Arbeit an erster Stelle. Sie schrieb jeden Tag und fühlte sich während der jährlichen Urlaubswochen schnell gelangweilt.

Steht meine Schreibtätigkeit an erster Stelle in meinem Leben?
Eigentlich ja, doch ich lasse mich (zu) häufig ablenken.

Samuel Beckett stand am frühen Nachmittag auf, briet sich Rührei, dann schloss er sich in seinem Zimmer ein und schrieb solange, wie er die Einsamkeit ertrug. Spät am Abend ging er aus, zog durch die Bars von Montparnasse, trank literweise billigen Rotwein und kehrte vor Sonnenaufgang in die Abgeschiedenheit seines Zimmers zurück. Er fand nur schwer in den Schlaf, war vom Schreiben besessen.

Die einsame Schreiberin bin ich sicher nicht. Rotwein darf es sein, lieber jedoch einen Rosé der nicht ganz billigen Sorte. Würde ich ihn literweise trinken, wäre ich Alkoholikerin, außerdem würde ich ausschließlich unbrauchbaren Unsinn verfassen.

Stephen King schreibt jeden Tag ohne Ausnahme. Er steht erst vom Schreibtisch auf, wenn sein Minimum von zweitausend Wörtern erreicht ist. Gegen acht Uhr am Morgen beginnt sein Arbeitstag, mittags um ein Uhr hat er meist sein selbst auferlegtes Soll erfüllt. Das Rezept des Bestsellerautors: Genau wie sich Geist und Körper an eine bestimmte Menge Schlaf gewöhnen, kann der wache Geist darauf hintrainiert werden, in einen schöpferischen Schlaf zu fallen und die lebhaften Wachträume heraufzubeschwören, aus denen erfolgreiche Literatur besteht.

Stephen King zählt zu meinen absoluten Vorbildern. Seine Disziplin, die Konsequenz, mit der er sich seinem Werk widmet, ist bewundernswert.

John Updike achtet darauf, täglich mindestens drei Stunden an seinem aktuellen Projekt zu arbeiten. Er ist davon überzeugt, dass ansonsten die Gefahr besteht, zu vergessen, worum es geht. Eine feste Routine rettet dich vorm Aufgeben, so lautet seine Erfahrung.

Die feste Routine ist ein Schlüssel zum Durchhalten und, wie man am Beispiel John Updikes sieht, auch eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg. Ich arbeite am Aufbau meiner täglichen Schreibroutine.

Toni Morrison konnte in ihrem Alltag nicht regelmäßig schreiben. Sie hatte einen Ganztagsjob als Lektorin, lehrte Literatur an der Universität und war alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen. Die Tageszeiten, zu denen sie schrieb, variierten von frühmorgens zu spätabends. Das Wichtigste sei es, so konstatierte die Autorin, dass sie sonst nichts tue neben dem Schreiben. Sie besuchte weder die üblichen sozialen Verlagsveranstaltungen noch ging sie in ihrer Freizeit auf Partys.

Und hier ist das Gegenprogramm: Toni Morrisons Lebensumstände ließen ihr die meiste Zeit keinen Raum für eine geregelte Schreibphase. Sie musste flexibel sein, war jedoch kaum weniger konsequent im Verfolgen ihrer Ziele. Von ihr lerne ich Prioritäten zu setzen zugunsten des Schreibens.

Patricia Highsmith versetzte sich laut ihres Biografen Andrew Wilson in Arbeitsstimmung, indem sie es sich, umgeben von Zigaretten, Aschenbechern, Streichhölzern, einer Tasse Kaffee, einem Donut und einem Tellerchen Zucker, auf ihrem Bett bequem machte. Sie wollte jeden Anschein von Disziplin vermeiden und den Schreibakt so lustvoll wie möglich gestalten.

Eine Künstlerin, wie man sie sich vorstellt. Würde ich meinen Lüsten nachgeben, blieben meine Manuskriptseiten vermutlich für immer jungfräulich rein und weiß.

Gertrude Stein erklärte zum Umgang mit ihrer Muse: „Wenn man jeden Tag eine halbe Stunde schreibt, kommt über die Jahre einiges zusammen. Eigentlich warte ich tagein, tagaus die meiste Zeit auf diese halbe Stunde.“ Diese Wartezeit verbrachte sie am liebsten damit, auf einer Wiese zu sitzen und stundenlang Kühe zu beobachten.

Kühe anzuschauen langweilt mich. Sommer, Sonne und Wiese bedeuten bei mir: ich döse oder tagträume. Die tägliche halbe Stunde als Minimum an Schreibzeit ist jedoch ein guter Rat zum Einsteigen, wenn die Disziplin mal wieder arg zu wünschen übrig lässt.

Jonathan Franzen schrieb Die Korrekturen unter selbst gewählten, besonders harten Bedingungen. Er schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein, ließ die Rollläden herunter, schaltete das Licht aus und setzte sich mit Ohrstöpseln, Ohrenschützern und einer Augenbinde vor den Computer. Das Buch zu vollenden kostete ihn vier Jahre und Tausende verworfene Seiten.

Keine Frage, Jonathan Franzens Die Korrekturen ist ein grandioses Buch. Seine Arbeitsbedingungen sind aber dermaßen rigoros und selbstkasteiend, dass sie sich kaum zur Nachahmung eignen.

Agatha Christie dagegen brauchte nach eigenen Angaben lediglich eine Schreibmaschine und einen Tisch, wobei es sich auch um einen Waschtisch im Schlafzimmer handeln konnte. Ihre Werke entstanden, indem sie sich, wenn es die Familienarbeit erlaubte, für eine halbe Stunde aus dem Zimmer schlich und schrieb. „Es war mir immer etwas peinlich, schreiben zu gehen“, erklärte sie. „Wenn ich es dann aber fortgeschafft hatte, konnte ich richtig loslegen und ging ganz in meiner Arbeit auf.“

Die große Krimiautorin ist schon deshalb ein Vorbild für mich, weil sie den Anspruch des eigenen Arbeitszimmers, die ungestörte Abgeschiedenheit, Ruhe und Zeit die Muse zu empfangen, die wir Schreiber gerne für uns beanspruchen, ad absurdum führt. Mit anderen Worten: ab sofort keine Ausreden mehr, Heide!

Haruki Murakami arbeitet an seinen Romanen von vier Uhr früh rund sechs Stunden lang ohne Unterbrechung. Den restlichen Tag verbringt er mit Sport, Lesen und Besorgungen, gegen neun geht er schlafen. An diesen Ablauf hält er sich strikt, da die Wiederholung hypnotisch sei. Er hypnotisiert sich selbst, um auf eine höhere Bewusstseinsebene zu gelangen. Allerdings reicht seiner Erfahrung nach die mentale Disziplin nicht aus. Körperliche Fitness sei genauso wichtig wie künstlerisches Gespür.

Drei Stunden später aufstehen und dafür abends auch mal ausgehen, das ist meine Abwandlung zur Arbeitsphilosophie des japanischen Literaten. Fraglos zählt er zu meinen Vorbildern.

Wie genau mein täglicher Schreibrhythmus künftig aussehen wird, weiß ich zwar noch immer nicht so genau. Bis ich mein Ritual gefunden habe, bei dem sich Alltag und Schreiben perfekt ergänzen, schließe ich mich dem Ausspruch William Faulkners an: „Ich schreibe, wenn mir der Sinn danach steht und der Sinn steht mir jeden Tag danach.“

Meine aktuelle Schreibstimmung: Vorbilder können gar nicht groß und bedeutend genug sein.
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Last modified: 8. Mai 2019

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