Was passiert, wenn eine Geschichte zu Ende erzählt ist? Dann fährt die Autorin auf dem Karussell der Gefühle.
Das letzte Wort der Geschichte ist geschrieben. Jetzt lasse ich sie eine Zeit lang ruhen, bei Abgabedruck mindestens eine Nacht, ansonsten schon mal für ein paar Wochen. Sie muss raus aus meinem Kopf, nur mit Abstand kann ich sie mit unverstelltem Blick überarbeiten. Stephen Kings Rat folgend, befasse ich mich mit etwas völlig anderem, erledige Alltagsdinge oder denke über eine neue Geschichte nach, bis ich die eben beendete wieder hervorhole, um sie zu redigieren.
Was passiert in dem Moment, da das letzte Wort geschrieben ist? Autoren wie Stephen King lassen ihren fertiggestellten Text „abhängen“ wie ein gutes Steak. Künstlerinnen wie Natalie Goldberg, die ich zu meinen Mentorinnen zähle, erleben widersprüchliche Gefühle, sobald sie den letzten Punkt gesetzt haben. „Sonntagabend um elf Uhr schrieb ich den letzten Satz. …Ich wanderte durch die Nacht bis zum Lone-Wolfe-Café in Santa Fe. Ich bestellte ein Glas Weißwein und zwei Kugeln Toffee-Eis. Ich sah jeden an, sprach mit niemandem und grinste die ganze Zeit: „Ich habe ein Buch geschrieben. Vielleicht kann ich bald wieder zu einem menschlichen Wesen werden“, beschreibt sie diese Situation in ihrem Bestseller Writing Down the Bones: Freeing the Writer Within.
Irgendwann endet jede Erzählung, jeder Artikel, jedes Schreibprojekt. Soviel ist sicher. Wobei der Autor zumindest in einer ersten Fassung, bevor der Redakteur oder der Lektor die Macht über das Werk an sich reißen, Herr über seine Arbeit bleibt. Die Herrschaft gibt man ab, sobald man seine Geschichte weiterreicht, um sie irgendwann als oft mehrmals umgeschriebenes, meist wesentlich überarbeitetes und manchmal heftig mit dem zuständigen Lektorat diskutiertes Endprodukt für immer loszulassen und der öffentlichen Meinung preiszugeben.
Ganz gleich, ob ich an einem Text schier verzweifle, bis ich eine brauchbare erste Fassung habe oder ob es eine Geschichte ist, die vom Kopf ohne Umleitung in die Tasten fließt: Am Ende überfällt mich jedes Mal ein Gefühl, das ich nicht vorhersehen kann. Und auch unabhängig davon, ob es sich um eine Kurzgeschichte oder ein Buch handelt, ob ich ein paar Stunden oder viele Monate Arbeit investiere, stehe ich am Schluss auf einem Gefühlskarussell.
Achterbahnfahrt
Ist der letzte Satz geschrieben, der allerletzte Punkt getippt, fahre ich das Notebook runter, stehe vom Schreibtisch auf und räume meine Notizen weg. Das muss ich tun, um so schnell als möglich einen Abstand zwischen meinem Text und mir zu schaffen. Bliebe ich vor dem geöffneten Dokument sitzen, würde ich unweigerlich lesen und ändern. Doch einmal muss Schluss sein, fürs Erste jedenfalls. Wie gesagt, danach sollte der Text abhängen. An diesem Punkt ist es mir unmöglich, inhaltlich sinnvolle Änderungen oder Ergänzungen vorzunehmen. Ich bin so stark in die Geschichte verstrickt, dass ich sowieso Ungereimtheiten und sogar offensichtliche Fehler kaum erkennen würde. Die Bandbreite meiner Gefühle, die mich nicht zwingend, natürlich nicht sämtlich und keinesfalls in der folgenden Abfolge überfallen:
Erleichterung
Die Aufgabe ist erledigt, ich bin endlich fertig, die Welt da draußen steht mir wieder offen.
Zweifel
Genügen meine Fähigkeiten, meine Ideen, mein Handwerk, mein Talent überhaupt? Bin ich eine passable Schreiberin? Oder gaukle ich mir das nur vor?
Verlangen
Ich will sofort in die Geschichte zurückkehren, will sie verbessern, am besten von Neuem beginnen und eine wirklich gute Story erzählen.
Stolz
Nicht immer halte ich bis zum Ende durch, leider. Doch dieses Mal hat es funktioniert. Ich bin Autorin.
Unzulänglichkeit
Eigentlich bin ich der Aufgabe gar nicht gewachsen. Weder bin ich eine begabte Schreiberin, möglicherweise völlig talentfrei. Und wer will meine Ergüsse überhaupt lesen?
Wut
Warum bringe ich mich immer und immer wieder in diese Lage? Seit Jahrzehnten schreibe ich, sollte also längst gelernt haben, mit dem Ende eines Projektes umzugehen.
Freude
Lange mussten meine ungelesenen Bücher warten. Jetzt habe ich Zeit für sie. Und für alle anderen aufgeschobenen Vorhaben. Theater, Jazzclub, Verabredungen. Hausarbeit?
Panik
Was wird der Lektor sagen? Muss ich alles umschreiben? Entspricht der Inhalt meinem zuvor formulierten Exposé? Wird er das Manuskript womöglich ablehnen? Was mache ich dann?
Übermut
Mein Leben gehört wieder mir. Das Notebook diktiert (vorerst) nicht mehr den Tagesablauf.
Trauer
Aus einer Geschichte aussteigen ist schwer, manchmal fast unmöglich. Wie soll ich ohne die Figuren weiterleben, die mich bis heute Tag und Nacht begleiteten?
Angst
Kann ich je wieder einen Text zustande bringen? Bin ich vielleicht leer geschrieben? Werde ich keine Ideen für neue Projekte mehr entwickeln können?
Und dann: Befreiung
Ich habe mich aufgerafft. Meine Gedanken sind in andere Bahnen gelenkt, ich bin mit anderen Themen oder mit alltäglichen Anforderungen beschäftigt, bin raus aus der Autorinnenrolle und in den HKW-Alltags-Wohlfühl-Jumpsuit-Modus hinein geschlüpft.
Natalie Goldberg beendete ihr Buch, nahm ein Bad und spazierte durch das nächtliche Santa Fe in ihr Stammcafé. Eine kluge Entscheidung. Anstatt zu Hause über ihr Werk zu grübeln, verließ sie ihre vertraute Umgebung und lenkte sich ab, indem sie Menschen in der Bar beobachtete. Sie genoss Eis und Wein, schaffte physisch und letztlich auch psychisch Abstand zur eben beendeten Arbeit. So konsequent zu handeln will ich lernen.
Den Laptop ausschalten und das Zimmer verlassen reicht nicht aus, um die immer noch kreisenden Gedanken (hätte, sollte, könnte, müsste ich den Abschnitt, die Beschreibung, die Handlung, die Protagonisten, die Nebenfiguren, den Handlungsort …) aus meinem Kopf zu verbannen.
Ein Glas Rosé in einem meiner Lieblingslokalen, allein genießen oder mit anderen ins Gespräch kommen (über Bücher vielleicht, über meines auf gar keinen Fall!) ist ein guter Anfang.
Irgendwann später hole ich den ausgeruhten Text wieder hervor, rufe die Datei auf, lege meine Notizen bereit und lese das Geschriebene als wäre es vom einem anderen Autor verfasst worden. Nach dem Ende ist vor dem Beginn.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Keine Panik, an Ideen für eine nächste Story hat es mir nie gemangelt.
Der Lippenstift: „Be my Date!“ von Lancôme
Last modified: 17. Juli 2017