Es war doch nur…
Ja, ich weiß. Es ist hoffnungslos übertrieben, um ein Kleidungsstück zu trauern. Es war doch nur ein Jeanshemd, sagt mein Partner. Das stimmt nur bedingt. Es war nicht irgendein Jeanshemd, von dem ich mich trennen musste, sondern eher ein Teil von mir. Der einst jeansblaue Stoff war vom häufigen Waschen zum sehr hellen Pastellblau geworden, das an manchen Stellen bereits zum Weiß tendierte. Wenn ich nicht wusste, was ich anziehen solle, gehörte es stets zur ersten Wahl. Außer zu Vorstellungsgesprächen und Hochzeiten trug ich es nahezu ununterbrochen. Mal mit gekrempelten Ärmeln und Top drunter oder langarmig unterm Pullover, zu Jeans, Leggings und beim Strandspaziergang überm Badeanzug. Ich betrachtete dieses Kleidungsstück durch die rosarote Brille einer Verliebten. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein Designerteil. Für wenig Geld hatte ich das Herrenhemd quasi im Vorbeigehen gesehen, für praktisch befunden und gekauft. Nicht einmal anprobiert hatte ich es. Ich wusste einfach, wir sind füreinander geschaffen. Und so trug ich das oberschenkellange, lässig geschnittene Hemd sommers wie winters. Im Schrank hing es nur höchst selten.
Ich bin eine unbegabte Näherin. Doch diesen Stoff hatte ich zigmal mit Hingabe ausgebessert. Nachdem ihr bedauernswerter Zustand sie im geschätzten Alter von fünfzehn Jahren nicht einmal mehr für die Altkleidersammlung qualifizierte, entsorgte ich diese große Liebe schweren Herzens. Heute finden sich in meinem Schrank zwar wieder einige Jeanshemden, aber für keines hege ich eine annähernd große Leidenschaft. Wir gehen miteinander aus dem Haus, das eine oder andere kommt mit auf Reisen, aber wir sind nicht verliebt ineinander. Da ich mich in jedem Jahr für eine Farbe entscheide, fiel die Wahl für 2020 auf die klassische Jeansfarbe Denim, in memoriam an mein verblichenes Hemd.
Last modified: 6. Februar 2020